Als ich Mitte der 2000er in die weiterführende Schule kam, war noch keine Rede von sexueller Vielfalt im Bildungsplan. Kein* Lehrer*in sprach von verschiedenen sexuellen Orientierungen, geschweige denn unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten. Das Maximale, das jemals erwähnt wurde, war im Biounterricht – in der gleichen Stunde, in der es auch um Trisomie 21 ging. Die Lehrerin sprach über Veränderungen im menschlichen Genom, die unter anderem auch Einfluss auf das äußere Erscheinungsbild des Menschen haben können. So könnten Frauen beispielsweise sehr männlich aussehen. In diesem Kontext fiel auch der Begriff „Shemale“.

Ich war sehr verwirrt, ich durchlief nämlich gerade die „weibliche“ Pubertät und sah sehr männlich aus. Meine Klassenkameraden waren ebenso verwirrt wie ich. Ein paar Mal wurde der Begriff über den Schulhof gebrüllt, einige Tage später legte sich die Aufregung bei den anderen wieder. Bei mir nicht. Ich hatte viele Fragen, die ich mich in der Schule nicht zu stellen traute. Zu sehr hatte mich der unsensible Umgang im Biounterricht verunsichert, der mir den Eindruck vermittelte, man sehe alles, was „anders“ war als biologisch auffällig und damit in negativem Licht. Um etwas über sexuelle Vielfalt zu lernen, brauchte es für mich mehr als die Schule.

Wenn es das Internet nicht gegeben hätte und mir meine Eltern nicht eine sehr liberale Internetnutzung ermöglich hätten, wüsste ich nicht, wie ich davon hätte erfahren sollen. Es gab noch kein Netflix mit queeren Serien und im Fernsehen liefen darüber keine Beiträge. Bestenfalls tauchte mal irgendwo in einem Film oder einer Talkshow jemand auf, der schwul war. Die heute immer mehr aufkeimenden Präsenz von LGBTIQ* Menschen in den Medien war zu der Zeit noch undenkbar. Heimlich bestellte ich mir Bücher im Internet, die einen LGBTIQ*-Bezug hatten, damit ich auch abgesehen von meiner Internetnutzung Informationen erhalten konnte. Auf deren Rückseite sollte so wenig wie möglich über den Inhalt preisgegeben werden – falls sie doch einmal meinen Eltern in die Hände fallen sollten.

Für mich gehören Informationen über sexuelle Vielfalt aber definitiv zur Bildung, die ein*e jede*r genießen sollte und die man sich nicht heimlich im Internet oder unter der Bettdecke aneignen müssen sollte. Vor allem bei Kindern, die dabei sind, ihren Platz in der Welt zu finden und die vielleicht noch nicht genau wissen, wie sie das, was sie fühlen, artikulieren sollen.

Es kann nicht sein, dass Kinder Tag ein Tag aus zur Schule gehen und dann durch das Internet gerettet werden müssen, wenn sie eigentlich mindestens 6 Stunden pro Tag gebildet werden sollten. Bildung hört inhaltlich nicht einfach Mitte der 80er auf. Genauso wie man mittlerweile im Geschichtsunterricht Informationen über den Mauerfall hört oder in Gemeinschaftskunde über Donald Trump spricht, sollte man auch nicht verleugnen, dass nicht jeder heterosexuell und cisgender ist. Man sollte den Kindern so viele Informationen wie möglich geben, um sich in der Welt zurechtzufinden und sich selbst eine Meinung bilden zu können. Denn genau das sollte die Schule sein – ein neutraler, informationsvoller Raum, der den Weg in die Zukunft ebnet. Und die Zukunft ist eben nicht für alle cis und hetero.