Jungs weinen nicht, Männer schon gar nicht. Darüber wurden nicht nur Lieder geschrieben, sondern es gibt auch genügend Eltern, die ihren Söhnen einreden, sie sollten nicht weinen – weil es ein Zeichen von Schwäche sei und obendrein unmännlich. Spätestens wenn sie dann in die Pubertät kommen, hört das Weinen auf – vielleicht, um die neugewonnen Männlichkeit nicht sofort wieder zu verlieren.

Während Frauen als emotional gelten, wird von Männern erwartet, dass sie keine übermäßig emotionalen Ausbrüche zeigen. Das sei eher den Frauen vorbehalten. Eine Vorstellung, die veraltet zu sein scheint. Wenn ich allerdings meine Freunde dazu befrage, wann sie das letzte Mal geweint haben, sind die Antworten alle ähnlich. Sie erinnern sich nicht, das sei wahrscheinlich in der Grundschule gewesen, es sei lange her.

Sehr nah am Wasser gebaut war ich nie, hin und wieder brachten mich jedoch Wut oder Traurigkeit zum Weinen. Als ich vor drei Jahren anfing, Testosteron zu nehmen, änderte sich das in einem schleichenden Prozess. Zu Beginn funktionierten meine Tränendrüsen weiterhin normal. Doch nach ungefähr einem Jahr auf Testosteron merkte ich, dass ich seit Monaten nicht mehr geweint hatte.

Ich war noch immer gelegentlich traurig – es waren lediglich zu keinem Anlass Tränen geflossen. Wie es schien, konnte ich einfach nicht mehr weinen. Feucht wurden meine Augen nur noch dann, wenn mir eine Wimper ins Auge stach oder sich ein Staubkorn in mein Auge verirrte. Als wäre meine Fähigkeit zu weinen verloren gegangen. Als wäre es eine Fähigkeit, die ich nur gehabt hatte, so lange Östrogen in meinem Körper sein Unwesen trieben.

Es hatte zu Anfang keinen sonderlich großen Einfluss auf mein Leben, dass ich nicht mehr weinen konnte. Abgesehen davon, dass meine Freundin mich verwundert ansah, wenn mir bei dem noch so traurigsten Film keine Träne über die Wange kullerte.

Doch ich stellte mir die Frage, ob Männer womöglich wirklich nicht weinten. Ob die Tatsache, dass ich meinen Vater noch nie hatte weinen sehen, einfach von seinem Geschlecht abhing, und nicht davon, dass er keine Schwäche zeigen wollte. Schließlich hatte das Testosteron es irgendwie geschafft, meine Tränendrüsen auszutrocknen. War ich jetzt plötzlich jemand, der nicht mehr weinte? War ich jetzt ein richtiger Mann?

Da Weinen für mich ein sehr befreiendes Gefühl war, betrübte mich der Verlust dieser Fähigkeit mit der Zeit. Ich sah nicht ein, warum ich nicht mehr in der Lage war, zu weinen. Für mich waren Tränen kein Zeichen für emotionale Schwäche, wie so mancher Mensch denkt, und ich widersetzte mich ganz gut den klischeehaften Rollenerwartungen, mit denen Männer konfrontiert werden.

Ich wollte endlich wieder das befreiende Gefühl erleben, das man empfindet, nachdem man alle aufgestauten Emotionen mit einem Schwall Tränen aus dem Körper  geschwemmt hat. Danach sieht man zwar erst mal aufgequollen aus, aber es lohnt sich. Doch der Gedanke, die Fähigkeit, weinen zu können, vielleicht verloren zu haben, machte mich nicht traurig genug, um tatsächlich eine Träne zu vergießen.

Um meine neue „Männlichkeit“ herauszufordern, setzte ich es mir zum Ziel, mich zum Weinen zu bringen. Und zwar mal wieder so richtig, nicht nur eine einzelne Träne, die man mal vor Lachen aus dem Augenwinkel presst. Ich sah es als eine Art Selbstexperiment, während ich mir die schlimmsten Bilder vor meinem inneren Auge ausmalte. Abgesehen von einem beklommenen Gefühl in der Brust oder in der Magengegend und der Hitze, die mir ins Gesicht stieg, passierte jedoch absolut nichts. Meine Augen wurden nicht einmal feucht.

Da die Vorstellungen vor meinem inneren Auge nicht ausreichten, griff ich zu tatsächlichen Bildern. Ich schaute mir „Marley & Ich“ an – jede*r, die*der den Film kennt, weiß, dass er Herzen bricht. Es passierte wieder nichts. Der Film brachte mich zwar nicht gerade zum Lachen, es floss aber auch keine der ersehnten Tränen.

Schließlich griff ich zum letzten Mittel, das mir auf die Schnelle zur Verfügung stand: Ich öffnete YouTube. Ich schaute Videos wie „Dieses Video bringt 95% zum Weinen“ oder „Bringt dich 100% zum Weinen“. Ich gehörte dann wohl zu den 0-5% (je nach Statistik), die bei dem Video tatsächlich doch nicht weinen mussten, denn meine Augen blieben trocken.

Nach vier Videos dieser Art war es mir dann zu blöd, noch weitere anzusehen. Traurig machten sie mich schon. Ich schaffte es nur einfach nicht, Wasser aus meinen Augen zu pressen. Es bildeten sich einfach keine Tränen. Ich betrachtete das Experiment als gescheitert.

Ein paar weitere tränenlose Monate zogen an mir vorbei, bis ich eines Tages eine sehr emotionale Unterhaltung mit meiner Freundin hatte. Wir stritten uns, wir sprachen uns aus, wir versöhnten uns. Und plötzlich waren die Tränen da, einfach so, als wären sie nie weg gewesen.

Der Damm war gebrochen und nachdem mir ein ganzes Jahr an Tränen über das Gesicht gelaufen war, fühlte ich mich aufgequollen, befreit und nicht weniger männlich als zuvor. Zu weinen war genau so, wie ich es in Erinnerung gehabt hatte. Als ich erst einmal damit angefangen hatte, flossen auch die ganzen Tränen, die ich beim Ansehen der YouTube Videos nicht vergossen hatte.

Ein Mann, der während eines Streits mit seiner Freundin weint? Ja. Das waren echt Gefühle, und die sind es auch wert, beweint werden. Meine Freundin hat sich zwar leicht erschreckt, mich weinen zu sehen, nachdem sie mitbekommen hatte, wie mein Selbstexperiment gescheitert war. Aber sie fand es auch schön, dass ich mich vor ihr so fallen lassen konnte.

Bei einer Recherche im Internet bin ich auf einige Artikel gestoßen, die behaupten, die Tränenproduktion würde mit der Höhe des Testosteronspiegels zusammenhängen. In meinem Fall würde das zwar erklären, warum ich in den ersten Monaten auf Testosteron nicht weinen konnte. Allerdings würde es nicht erklären, warum es irgendwann einfach wieder ging – denn im Gegensatz zu dem Hormonspiegel eines cis Mannes ist meiner konstant.

Männer weinen auch, denn Männer sind auch verletzlich. Weil Männer eben Menschen sind und nicht eine übermenschliche Spezies, der nichts etwas anhaben kann. Auch sie haben Tränendrüsen. Obwohl Testosteron das Weinen vielleicht erschwert, verschwinden die Tränendrüsen nicht magisch durch das Hormon.

Ich finde nicht, dass man seine Emotionen zurückhalten muss, schon gar nicht aufgrund seines Geschlechts. Man muss sie vielleicht nicht erzwingen, so wie ich das mit den YouTube Videos versucht habe. Aber wenn die Tränen mal da sind, kann man ihnen auch freien Lauf lassen, anstatt sie krampfhaft zurückzuhalten, um sich ja nicht zu blamieren oder seine Männlichkeit zu verlieren. Die wird von den Tränen nämlich nicht einfach weggeschwemmt.