„Der Typ muss ja riesige Eier haben, um sowas zu tragen!“ sagt mein Kumpel und nickt in Richtung eines mittelalten Mannes mit einem hellgrauen Strickpullover, der relativ eng ist und so aussieht, als wäre er ein Kleidungsstück aus der Frauenabteilung.
Ich frage mich, warum der Mann riesige Eier haben muss, um sowas zu tragen. Und genau das frage ich meinen Freund auch. „Na ja, weil der Pulli so aussieht, als wäre er für Frauen!“ bekomme ich als Antwort von ihm, während er den Mann anstarrt, als wäre dieser nackt und würde die eben angesprochenen Eier gerade präsentieren.
Könnte ich einen solchen Pulli dann gar nicht tragen, weil ich nicht im Besitz von Eiern bin? Steht „Eier“ sinnbildlich für Mut? Und wenn ja, warum muss man so viel Mut besitzen, ein solches Kleidungsstück zu tragen? Selbst wenn der Pulli ursprünglich für Frauen entworfen wurde, macht es ihn für Männer nicht untragbar.
Ich gehe stark davon aus, dass der Pullover dem Mann einfach gefällt und er ihn deshalb trägt. Er sieht aus, als würde er sich wohlfühlen. Und das ist doch die Hauptsache. Warum muss dann extra angesprochen werden, dass das Kleidungsstück vielleicht etwas „feminin geschnitten“ ist? Und wieso spricht man Kleidungsstücken überhaupt Eigenschaften zu, wie „feminin geschnitten“ zu sein?
Wenn man einen Kleidungsladen betritt, wird gleich deutlich: Es wird davon ausgegangen, dass Männern und Frauen unterschiedliche Klamotten gefallen und passen, weshalb die Läden meistens in eine Abteilung für Männer und eine für Frauen unterteilt sind. Die Größen, Schnitte und Farben unterscheiden sich zwischen den Geschlechtern. Doch an sich gibt es für die Frauen genauso Jeans, wie es für die Männer Tank Tops gibt.
Ich habe Freundinnen, die mal ganz gerne in den Männerabteilung shoppen und sich dann hippe „Boyfriend Jeans“ und „Oversized-Hoodies“ zulegen. Aber dass einer meiner Kumpel in der Frauenabteilung shoppt? Eher unüblich, vielleicht auch gerade, weil die Frauengrößen kleiner ausfallen.
Folgende Situation spielt sich vor meinem inneren Auge ab: Ein Mann läuft durch die Frauenabteilung und sieht einen Pullover, der ihm gefällt. Er debattiert in seinem Kopf mit sich selbst, ob er diesen Pulli anprobieren könnte, dürfte, sollte. Ob er dafür genügend Eier in der Hose hat, was wohl die anderen denken würden. Fakt ist, der Pulli gefällt ihm. Er zieht ihn an, der Pulli passt, er kauft ihn. Es ist ein Kleidungsstück wie jedes andere und er fühlt sich wohl darin.
Dann trägt er es in der Öffentlichkeit und die anderen Menschen, die ihm begegnen, sind so darauf gepolt, zwischen Männer- und Frauenklamotten zu unterscheiden, dass es ihnen sofort auffällt: Der Pulli ist eigentlich für Frauen gedacht! Wie furchtbar. Da hat der Mann wohl ein ungeschriebenes Gesetz gebrochen, denn jeder weiß, dass Frauen zwar in der Männerabteilung einkaufen dürfen, jedoch Männer nicht in der Frauenabteilung.
Er hat Glück, denn seine großen Eier retten ihn vor der Verurteilung und er kommt gerade noch einmal ungeschoren davon.
Jede*r sollte einfach doch das tragen, was sie*er cool findet und worin sie*er sich wohl fühlt. Und die anderen sollten nicht so ein Ding daraus machen, wenn das Kleidungsstück mal nicht in die Vorstellung passt, die man von einem Kleidungsstück für ein bestimmtes Geschlecht hat. Es gibt schon so viele Kategorien und Schubladen, alleine bei Klamotten: Es ist ein Pullover. Es kann einer aus Baumwolle, aus Kaschmir oder Seide sein. Und dann kann er auch noch für Männer oder für Frauen sind. Aber eigentlich nicht für beide. Man sollte doch meinen, wenn wir den Gedanken fassen können, dass wir auf einer schwebenden Kugel mitten einem unendlich großen Raum aus Licht und Zeit leben, dann kommen wir auch mit dem Gedanken klar, dass Klamotten einfach Klamotten sind. Und dass sie nicht die Männlichkeit oder Weiblichkeit einer Person bestimmen müssen.
Mode ist eigentlich experimentierfreudig und vielfältig, nur lassen wir uns in unseren Vorstellungen davon einschränken, was wir für Männer und für Frauen als angemessene Kleidung betrachten. Ein Mann wird nicht weniger männlich, wenn er mal einen Pulli trägt, der so aussieht, als wäre er eben aus der Frauenabteilung. Aber eine Person wird weniger sympathisch, wenn sie anderen vorschreibt, was sie zu tragen haben, um in die vorgefertigten Bilder von den Geschlechtern zu passen.
Man muss nicht der am männlichsten aussehende Mann mit vollem Bart, breiten Schultern, sehnigen Unterarmen und Holzfällerhemd sein, um seine Geschlechtsidentität auch ohne „riesige Eier“ behalten zu können, wenn man mal ein Kleidungsstück trägt, das nicht schon von weitem Männlichkeit schreit.