Meine Eltern erzogen meine Brüder und mich im Wesentlichen gleich. Der größte Unterschied, den sie machten, war mein wunder Punkt: Mein Geschlecht. Ich war in den Augen meiner Eltern im Gegensatz zu meinen Brüdern als Mädchen so verletzlich, dass sie mich mit 8 in einen Selbstverteidigungskurs für Frauen schickten, mir mit 13 mein erstes Pfefferspray schenkten und mich mit 16 nachts überall abholten, bevor ich auf die Idee kam, alleine durch ausgestorbene Straßen nach Hause zu laufen. Meine Eltern sahen mich in Gefahr, ganz einfach, weil ich für sie ein Mädchen war.
Wegen der mir nach der zugewiesenen Geschlechts wurde ich zur Wachsamkeit erzogen. Wenn ich nachts doch mal alleine unterwegs war, dann mit dem Pfefferspray in der einen, mit dem Handy in der anderen Hand. Ich setzte mich nie in ein leeres Zugabteil, sondern immer dorthin, wo auch andere Menschen waren. Im Nachtbus nahm ich eher vorne beim Busfahrer Platz. Alles Vorsichtsmaßnahmen, die meinen Brüder nicht mitgegeben wurden.
Dann hatte ich meine erste Freundin und meine Mutter führte ein ernstes Gespräch mit mir. Als sie sich mit dem Gedanken angefreundet hatte, dass ihre Tochter wohl lesbisch sei, fing sie an, sich Sorgen zu machen. Darüber, was mir wegen meiner Homosexualität alles zustoßen könnte.
Ich weiß, wie es ist, als lesbisch Frau wahrgenommen zu werden und meine Freundin in der Öffentlichkeit zu küssen. Ich kenne die Blicke und das Getuschel und die gezischten Satzfetzen wie „Diese Lesben! Abartig!“. Ich kenne das Gefühl der Befangenheit und Vorsicht, wenn man Händchen haltend die Straße entlang läuft. Und dass man dann doch eher mal die Hand der Freundin loslässt, wenn man an einer Gruppe alkoholisierter Menschen vorbeiläuft. Weil man nicht auffallen möchte. Weil man mal kein Ziel sein möchte.
Jetzt stehe ich auf der anderen Seite. Seit ich als Mann gelesen werde, bin ich in unserer Gesellschaft nicht mehr so verletzlich. Es ist Jahre her, seitdem sich mein Vater das letzte Mal erkundigt hat, ob ich das Pfefferspray auch in meiner Jackentasche griffbereit habe.
Ich weiß, wie es ist, als Mann gesehen zu werden, und meine Freundin in der Öffentlichkeit zu küssen. Keiner interessiert sich dafür. Wenn doch mal jemand schaut, lächeln dieselben alten Frauen, die bei dem lesbische Paar noch die Augen zusammenkniffen und sich bekreuzigten, über die junge Liebe.
Ich wünschte, Frauen könnten sich genauso stark fühlen wie Männer. Ich wünschte, Frauen würden genauso wenig als Angriffsziel wahrgenommen werden wie Männer. Ich wünschte, homosexuellen Paare würde in der Öffentlichkeit genauso wenig Aufmerksamkeit gewidmet werden wie heterosexuellen Paaren.
Jede*n, die*der meint, wir leben in einem Zeitalter der Gleichstellung und ohne Sexismus, muss ich enttäuschen. Wir leben erst dann in einer Zeit der Gleichstellung, wenn man gleich behandelt wird, unabhängig von seinem Geschlecht, seiner sexuellen Orientierung oder jeglicher „Andersartigkeit“. Und an diesem Punkt sind wir noch nicht angekommen.
Ich nehme klar die Privilegien wahr, die ich jetzt habe – die ich als Frau, und noch dazu als lesbische Frau, nie gehabt hätte. Ich kann meine Freundin in der Öffentlichkeit küssen, ganz ohne Sorge vor negativen Reaktionen. Niemand sieht mich als Zielscheibe. Ich muss mich nachts nicht länger fürchten und ich brauche kein Pfefferspray mehr – obwohl das bei meinem mulmigen Gefühl auf dem Nachhauseweg noch nicht so ganz angekommen ist.