Stealth leben – ein Geheimnis mit sich herumtragen

Knapp vier Jahre lang habe ich größtenteils stealth gelebt, das bedeutet, die meisten Leute in meinem Umfeld wussten nicht, dass ich trans* bin. Dabei stellte sich mir immer wieder eine Frage:

Darf ich als trans* Person stealth leben oder habe ich eine soziale Verpflichtung, offen mit meiner Transidentität umzugehen? 

Mit dieser Frage habe ich mich viel beschäftigt. Vor allem, nachdem ich meine Transition zum Großteil abgeschlossen hatte und von meinem Umfeld selbstverständlich als männlich wahrgenommen wurde. Eigentlich hätte die Tatsache, dass ich trans* bin, kein Thema mehr für mich sein müssen, denn in meinem Alltag tangierte sie mich kaum noch.

Dennoch dachte ich seit ein paar Monaten weitaus mehr darüber nach, als während der Anfangsphase meiner Transition. Damals war ich so überwältig von der Wirkung von Hormonen und den Aussichten auf OPs, dass ich weniger über meine Position und mögliche Aufgabe in der Gesellschaft reflektierte.

Wenn nicht viele, viele Menschen vor mir offen mit dieser Thematik umgegangen wären, wäre ich nicht in der komfortablen Position gewesen, als eine Art Nutznießer alle Vorteile des Fortschritts auszukosten.

Und mich dann entspannt zurückzulehnen, ohne mich selbst engagieren zu müssen. Ohne sie gäbe keine Transsexuellengesetz in Deutschland, und auch keine 2011 eingeführten sehr notwendigen Änderungen von eben diesem.

Bis 2011 war es in Deutschland nämlich notwendig, fortpflanzungsunfähig zu sein, um eine Änderung des Geschlechtseintrags in der Geburtsurkunde und im Pass zu ermöglichen. Das bedeutete für trans* Männer eine sogenannte Totaloperation: die Entfernung von Gebärmutter und Eierstöcken.

2011 wurde jedoch offiziell festgehalten, dass dieser Paragraph des Gesetztes gegen die Menschenwürde verstößt. Er wurde abgeschafft. Hätten sich vor mir nicht eine Menge anderer für die Rechte von trans* Menschen eingesetzt, wäre mir eine Änderung des Geschlechtseintrags erst sehr viel später möglich gewesen, um nur ein Beispiel zu nennen.

Für andere trans* Menschen, vor allem zu Beginn ihrer Transition, ist es lebensnotwendig, von Menschen in der gleichen Situation zu erfahren.

Von Menschen, denen es gut geht, und die alle Hürden überwunden haben. Da ist eine Selbsthilfegruppe für trans* Menschen nicht zwangsläufig eine ausreichende Anlaufstelle. Zumindest war es das für mich nicht. Mir hat es damals am meisten geholfen, Menschen zu sehen, die sich in die Öffentlichkeit gewagt haben und zeigten, dass es nichts gibt, was sie zu verstecken haben. Dieser Mut erschien mir immer bewundernswert.

Einige trans* Menschen sprechen sich klar dagegen aus, stealth zu leben.

Sie vertreten die Meinung, man solle stolz drauf sein, trans* zu sein. Es würde Trans* zu sein in ein negatives Licht rücken, wenn man darüber schweigt, als wäre es etwas Beschämendes. Ich finde, dass jede trans* Person auf ihre Identität bezogen so offen und so verschlossen sein kann, wie sie möchte. Jede*r hat andere Gründe, stealth oder geoutet zu leben. Viele leben aus Angst vor Diskriminierung, Gewalt und sozialer Ausgrenzung stealth.

Wie aber wollte ich damit umgehen?

Lange Zeit war ich zu verunsichert, um mich zu outen. Für mich war es ein neues, wundervolles Phänomen, als Mann wahrgenommen zu werden. Und um keinen Preis wollte ich diese neugewonnene Freiheit wieder missen. Für mich war es selbstverständlich, dass mir ein Teil meiner Männlichkeit wieder aberkannt werden würde, wenn mein Umfeld über wüsste, dass ich trans* bin.

Also fällte ich vor vier Jahren, noch vor Hormonbeginn, die Entscheidung, stealth zu leben.

Was am Anfang noch schwierig war, da mein Passing zwar vorhanden, jedoch dank meiner Stimme etwas fragwürdig war, wurde durch Testosteron zu einer Leichtigkeit.

Je näher ich meine neuen Freund*innen kennenlernte, desto mehr fühlte es sich an, als würde ich einen Teil von mir verstecken. Wenn ich über meine Vergangenheit erzählte, waren das nur die Details, die auch für einen Jungen sozial akzeptiert wären.

Ich fragte mich dabei, ob ich meine Vergangenheit verleugnen würde, oder ob es okay wäre, nicht alles über mich zu offenbaren.

Schließlich machte ich meinen Abschluss und meine damaligen Freund*innen fanden dieses Detail über mich nie heraus.

Ich dachte häufig über diese Thematik nach, denn eigentlich wollte ich über Trans* und generell die LGBTIQ*-Thematik aufklären. Auf gewisse Art und Weise war ich auf diesem Gebiet schließlich ein Experte, zumindest meine eigene Erfahrung betreffend. Doch den Großteil der Zeit schlummerte dieses Wissen still in mir, ohne dass ich es teilen konnte.

Was ich als weißer, hetero und augenscheinlich nicht queerer Mann zu diesem Thema zu sagen hatte, interessierte kaum jemanden.

Aber trans* zu sein in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen, fiel mir schwer. Denn für mich war es in Teil von mir – ein großer Teil. Dennoch machte es mich nicht aus. Ich definierte mich nicht darüber, sondern ich war es einfach. Genauso wie ich groß war, oder im Herbst Geburtstag hatte. Es war Tatsache, ein Fakt über mich und meine Vergangenheit, der aber nicht beeinflussen sollte, wie Leute mich wahrnahmen und wie sie mit mir umgingen.

Im Gegensatz zu dem Zeitpunkt meiner Geburt, die ebenfalls eine Tatsache war, vermutete ich, dass Menschen anders mit mir umgehen würden, wenn sie wüssten, dass ich trans* bin. 

Meine Männlichkeit hätte in Frage gestellt werden können, war sie zuvor doch noch selbstverständlich. Außerdem würde es die Leute geben, die überraschte Äußerungen machen würden wie „Oha, von dir hätte ich das ja mal gar nicht gedacht!“, was kein Kompliment wäre.

Ich stand im Zwiespalt zwischen meinem Bedürfnis und dem Gefühl der Verpflichtung, andere Menschen aufklären zu müssen oder zu wollen und der Tatsache, dass ich mehr war als trans*.

Schließlich entschied ich mich dafür, nicht mehr stealth zu leben und das Privileg, als cis Mann durchzugehen, aufzugeben. Weil es mir wichtig war, mit meinen Erfahrungen an die Öffentlichkeit zu gehen, andere Leute aufzuklären und gegebenenfalls auch Mut zu machen, wenn sie in einer ähnlichen Situation sein sollten wie ich.

Die Erfahrungen, die ich dabei machte, überraschten mich. Ich war davon ausgegangen, negative Reaktionen zu bekommen und anders wahrgenommen zu werden – doch weitestgehend blieb das aus. Klar wurde hinter meinem Rücken über mich getuschelt und es gibt immer die ein oder andere Person, die sich unangebracht verhält. Aber im Großen und Ganzen erhielt ich viel Zuspruch und viele positive Worte dafür, dass ich mich getraut hatte, zu mir zu stehen.

Ich bin froh, dass ich mich getraut habe, mein „Geheimnis“ nach außen zu tragen.

Wahrscheinlich wäre es mir aber viel schwerer gefallen, wenn ich nicht so viel Rückhalt von meiner Familie und meiner Freundin bekommen würde. Ich wusste, egal was passiert, es würde immer noch Menschen geben, die auf meiner Seite wären.

Es ist schön, jetzt endlich alles von mir erzählen zu können und meine Gedanken und Meinungen mit Erfahrungen untermauern zu könne, die ich zuvor unter den Tisch fallen ließ. Außerdem hat es mich Menschen bereits näher gebracht, dass ich offen über meine Erfahrungen in schwierigen Situationen gesprochen habe. Als wäre bereits ein Raum für offene und ehrliche Gespräche dadurch geschaffen, dass ich offen und ehrlich war.

Entgegen meiner Erwartungen ist die Tatsache, dass ich trans* bin, nicht zu meiner Haupteigenschaft geworden, nachdem ich offen mit dem Thema umging.

Ich bin trans*, aber ich bin auch viel mehr. Und ich bin stolz darauf, zu sein, wer ich bin. Ich kann verstehen, wenn man sich dazu entscheidet, stealth zu leben. Ich habe diese Jahre gebraucht, in denen ich stealth war, um zu mir zu finden und auch um endlich mal meine Ruhe zu haben. Es kann sein, dass ich das irgendwann wieder brauchen werden. Aber zur Zeit bin ich froh, dass ich offen nach außen treten kann.

Ich kann jeden verstehen, der stealth leben möchte und ich finde, jeder sollte eine Entscheidung treffen, mit der er sich wohlfühlen.

Aber ich finde es auch verdammt wichtig, dass man für Sichtbarkeit, Aufklärung und Akzeptanz sorgt – und ich bewundere nicht nur die Leute, die das machen, sondern bin jetzt auch selbst einer von ihnen.

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