Vom binären Geschlechterverständnis und sozialen Erwartungen

Das gesellschaftlich weitverbreitete Verständnis von Geschlecht ist binär. Es wird in „männlich“ und „weiblich“ beziehungsweise „Mann“ und „Frau“ eingeteilt. Jede Person wird einer dieser beiden Kategorien zugeordnet, und die Norm in unserer Gesellschaft ist es, diese Einteilung anhand körperlicher Merkmale zu treffen – zum ersten Mal bei der Geburt anhand der Genitalien.

Sollten die Genitalien bei der Geburt nicht eindeutig einem Geschlecht entsprechen, besteht in einem binären Verständnis von Geschlecht das Bedürfnis, die Genitalien so anzugleichen, dass sie in eine der beiden Kategorien passen.

Auch nach unserer Geburt werden wir anhand unseres Aussehens von unserer Umwelt ständig einem Geschlecht zugeordnet.

Dass Geschlecht mehr ein Spektrum als ein binäres System ist, es also etliche Abstufungen zwischen den Polen von „Mann“ und „Frau“ gibt, wird dabei nicht berücksichtigt. Und auch nicht, dass man* das Geschlecht einer Person nicht an den Genitalien oder anderen körperlichen Merkmalen festmachen kann. 

Dieses binäre Verständnis von Geschlecht befindet sich im heteronormativen Cis-Kontext, der davon ausgeht, dass es nur Männer und Frauen gibt, deren Geschlechtsidentität mit ihrem Geburtsgeschlecht übereinstimmt und dass sie nur das „andere“ Geschlecht lieben. In unserer Gesellschaft ist dieses Verständnis die Norm und wird kaum hinterfragt.

Ich habe zu Beginn meiner Transition zwar die Ansicht in Frage gestellt, dass Geschlechter anhand von Genitalien festgelegt werden können. Und diese Ansicht als fehlerhaft befunden. 

Nicht hinterfragt habe ich jedoch die binäre Einteilung von Geschlechtern. Ich sah mich weiter in dem binären System, nur eben in der anderen Kategorie: als Mann. 

Vor meiner Transition hatte ich stets das Gefühl, dass mein als weiblich gelesener Körper nicht mit meiner Geschlechtsidentität übereinstimmt. Mir war es wichtig, als Mann gelesen zu werden, eine tiefe Stimme zu haben, eine flache Brust, nicht mehr als Frau gesehen zu werden, mit männlichen Pronomen und einem neuen Namen angesprochen zu werden. 

Warum? Weil mir das Geschlecht, das mir bei meiner Geburt auferlegt wurde, nicht entsprach. Und, dass es für mich eigentlich selbstverständlich war, entsprechend meiner Identität als Mann gelesen und wahrgenommen zu werden – nur, dass das außer mir niemand als selbstverständlich sah. Mir war es wichtig, meinen Körper an dieses Gefühl anzupassen, um mich in ihm wohlzufühlen.

Ich weiß natürlich nicht, ob ich, wenn Brüste und eine hohe Stimme in unserer Gesellschaft nicht automatisch mit Weiblichkeit beziehungsweise Frau*Sein assoziiert werden würden, die Schritte trotzdem gebraucht hätte. Das ist eine Frage, die weder ich noch jemand anderes beantworten kann, weil sie ein hypothetisches Szenario beinhaltet, das darauf basiert, dass es in unserer Gesellschaft kein weit verbreitetes binäres Verständnis von Geschlecht gäbe. Und auch keine festen Vorstellungen davon, was mit welchem Geschlecht verbunden wird und was welches Geschlecht ausmacht. 

Für mich kann ich auf diese Frage nur antworten, dass ich mich dank meiner Transition endlich zuhause in meinem Körper fühle, dass ich mich in ihm frei fühle und nicht mehr eingesperrt. Und dass das für mich das einzige ist, was zählt.

Ob die Tatsache, dass ich mich in meinem Körper wohl fühle, daran liegt, dass mein Körper jetzt mehr dem gesellschaftlich konstruierten Erwartungen an den Körper eines Cis-Mannes entspricht? Kann sein. Jedoch tut er das in einigen Aspekten auch nicht. 

Nachdem ich mich als trans* geoutet hatte, wollte ich auf jeden Fall von meinem Umfeld und der Gesellschaft als Mann gelesen werden und mich in die volle Männlichkeit integrieren, damit niemand niemals wieder mein Geschlecht in Frage stellen würde. Ich wollte unbedingt ein „Cis-Passing“ haben, also als Cis-Mann wahrgenommen werden, um stealth leben zu können.

In meiner Kindheit und Jugend habe ich viele Erfahrungen damit gemacht, wie es ist, optisch und verhaltenstechnisch Erwartungen nicht zu entsprechen – in dem Fall, den Erwartungen, die in der Gesellschaft an Frauen und Weiblichkeit gestellt werden. Ich hatte nach meinem Coming-Out als trans* das Gefühl, ich müsste als Mann bestimmten Idealen entsprechen, um mich nicht wieder oder weiterhin in einer Position zu befinden, in der ich in keine gesellschaftliche Schublade passte.

Deswegen habe ich zum Teil versucht, den Idealen und Erwartungen zu entsprechen, wie selbstverständlich mehr Platz einzunehmen, als es für eine Frau je akzeptable wäre, keine Schwäche und weniger Gefühle zu zeigen, muskulös zu sein. Das hat alles so mittelmäßig geklappt. Es kam mir einfach nicht natürlich. Ich war nun mal emotional und hatte keine Probleme damit, Schwäche zu zeigen. 

Als ich meine Transition bereits eine Zeit lang durchlebt hatte und keine so große Angst mehr davor hatte, was passieren würde, wenn ich eben nicht den Idealen und Erwartungen entsprach, fing ich an, sie zu hinterfragen. Es erschien mir fast schon lächerlich, dass ich versucht hatte, ihnen zu entsprechen. 

Ich wollte herausfinden, was Männlichkeit überhaupt für mich selbst bedeutet, unabhängig von dem, was es aus gesellschaftlicher Sicht bedeuten sollte. 

Und schon mal gleich ein Disclaimer: Ich habe keine ultimative Antwort gefunden. Und meine Antwort ist schon gar nicht allgemeingültig. Ich bin mir ziemlich sicher bin, dass mein Verständnis von dem, was Männlichkeit für mich bedeutet, nicht statisch ist und sich im Laufe der Zeit verändern kann. Wenn ihr also auf die eine Antwort gehofft hattet, die euch die Welt erklärt, muss ich euch enttäuschen. 

Hier geht’s zu Was bedeutet Männlichkeit – Teil 2: Von (k)einem Penis und Privilegien.